Dieser Bucheinband ist schön. Erst mal gebunden, also kein nachgiebiges Cover, sondern eines, das man fest anfassen kann. Auch kein Papierumschlag drumherum, bei dem man sich immer fragt, ob man ihn beim Lesen lieber abmachen soll, obwohl er ja das Buch schonen soll und nicht umgekehrt. Dann natürlich die Umschlagillustration, die von Birte Müller stammt. So bunt, aber nicht grell, mit vielen Dingen, die im Buch, in der Geschichte vorkommen.
Unten krabbeln beziehungsweise schwimmen eine Kakerlake und ein Fisch durchs Cover und sehen ganz nett aus, doch als Spitzname sind sie nicht gerade schmeichelhaft, auch nicht in Indien, wo Neena und Akhil leben – Neena im Fischerdorf Nallipulla, Akhil im Dorf Karutam. Neena ist elf Jahre und nicht auf den Mund gefallen. Wenn Jungs aus ihrer Klasse sie Neena Stinkefisch nennen, „stinkt“ sie zurück. Und auch gegen ihre kleine, jedoch wort- und ohrfeigengewaltige Großmutter, die Ammamma, begehrt sie auf – indem sie „abschaltet“, wenn diese lauthals mit ihr schimpft, oder indem sie der Großmutter, die nicht lesen kann, beim Vorlesen der Zeitung Lügengeschichten erzählt. Neena will schwimmen lernen und Muschelpflückerin werden, wie ihr Vater, der Achan. Doch in ihrer Gegend im Süden Indiens dürfen Frauen und Mädchen nicht ins Meer und erst recht nicht darin schwimmen.
Akhil ist zehn und schrecklich verliebt in die schöne Ambeli aus seinem Dorf – die acht Jahre älter ist als er. Heimlich schaut er Bollywoodfilme an und träumt davon, Ambeli zu küssen. Dass er für Ambeli schwärmt, merkt ausgerechnet sein Erzfeind Raaji, und der ist es auch, der Akhil eine Kakerlake nennt – eine kleine Kakerlake, die nichts weiß.
Auf dem Bucheinband sind mehrere Muscheln zu sehen – Muscheln, nach denen Neenas Vater taucht, die Neenas Mutter, die Amma, auf dem Markt verkauft, und vielleicht auch Neenas zwei Muscheln, die ihr Geheimnis sind und die Glück bringen sollen. Neena ist am Strand, als ihr Vater an einem Tag nach Muscheln taucht und dabei schlimm verletzt wird, weil Fischer in seiner Nähe mit Dynamit fischen. Sie ist nicht vor Angst und Schrecken gelähmt wie ihre Großmutter, sondern handelt. Und sitzt schließlich bei ihrem Vater im Taxi, das sie in die Stadt Trivandrum ins Krankenhaus bringen soll. Als das Taxi unterwegs einem Bus in die Quere kommt, sehen Neena und Akhil sich zum ersten Mal in ihrem Leben: Denn Akhil ist mit seiner Familie in diesem Bus auf dem Weg in die Stadt, um dort den Geburtstag der Mutter zu feiern.
Neena und Akhil begegnen sich wieder. Sie treffen beide Dr. Elizabeth Koshi, Zahnärztin im Krankenhaus von Trivandrum, die für sie eine wichtige Rolle spielen wird. Welche das ist, steht im Buch. Das im Übrigen absolut lesenswert ist. Weil es Indien, das fremde, so andere Land, ein wenig näherbringt, und das wie im Vorbeigehen, ganz selbstverständlich in die Geschichte integriert. Das ist kein rein idyllisches, kein Bilderbuchindien. Von Müll überall liest man, von heiligen Ratten, Gestank nach Pisse, von Eltern, die für den Lebensunterhalt der Familie sehr hart arbeiten und für einen kleinen Geburtstagsausflug in die Stadt jahrelang sparen müssen, von Kindern, deren Familien es sich nicht leisten können, sie länger als sechs Jahre zur Schule gehen zu lassen, vom Leben mit den Tempeln und den Göttern, von Männern, die das wenige Geld in Schnaps umsetzen, von indischem Essen und Trinken, davon, dass die Eltern der Braut die pompösen Hochzeiten bezahlen müssen, dass die Kinder in der Schule Uniform tragen und vieles mehr. Auch ein paar indische Wörter sind eingeflochten: Ammamma, die Großmutter, Achan, der Vater, Amma, die Mutter …
Und lesenwert ist das Buch auch, weil man zwei Kinder kennenlernt, mit ihren Träumen, Geheimnissen, Plänen. In ihrer Lebenswelt. Nicht so, dass man Mitleid hat, sondern so, dass man mitfiebert und froh ist, wenn am Ende die beiden zusammen die Kakerlake und den Stinkefisch ablegen und für sich andere Namen finden. Das Buch ist ab zehn Jahren – die Kapitel sind kurz, immer im Wechsel geht es einmal um Neena, dann um Akhil. Die Sprache ist natürlich und gar nicht schüchtern, Marie-Thérèse Schins hat so geschrieben, dass man es schnell und gern liest, und die Illustrationen im Buch stammen auch von ihr. Man merkt, dass die Autorin Indien kennt, mehr als sechzig Mal war sie schon in dem Land, ist auf einer der letzten Buchseiten zu lesen. Sie erzählt nicht nur eine nette, unterhaltsame Geschichte, sondern hat was zu sagen. Ein schönes, gutes Buch, innen wie außen.
Marie-Thérèse Schins: Akhil Kakerlake und Neena Stinkefisch
ab 10 Jahren
Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978–3‑7725–2493‑6
195 Seiten
14,90 Euro