Was wären wir ohne Muttermilch?
Kränker, ängstlicher und dümmer! Die Erforschung der Bestandteile und Funktionen menschlicher Muttermilch hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht und lässt langsam erahnen, welchen wichtigen Beitrag die Ernährung des Neugeborenen auf seine frühe Entwicklung hat.[1]
Schutz vor Krankheiten.
Schon lange ist bekannt, dass Muttermilch Neugeborenen eine so genannte passive Immunität gegen Keime vermittelt, indem Antikörper (IgA und IgG) von der Mutter an das Kind weitergegeben werden.[2] Ein weiterer Aspekt wird durch aktuelle Forschung deutlich: Muttermilch unterstützt die Besiedlung des Verdauungssystems des Kindes mit „vorteilhaften“ Bakterien, wie man sie aus probiotischem Joghurt kennt. Haut, Mundhöhle und das Verdauungssystem des Menschen sind mit unzähligen – meist friedlichen und in vielen Fällen sogar nützlichen – Bakterien bevölkert. Zählt man nur die Einzeller des Dickdarms zusammen, übertrifft die Zahl (1014) die Summe aller Körperzellen, die einen Menschen ausmachen, um das Zehnfache![3] Einige dieser Bakterien sind sehr nützlich: Sie schützen uns vor der Besiedlung krankheitsauslösender Keime; außerdem stärkt die beständige Auseinandersetzung mit diesen Gästen unser Immunsystem nachhaltig.[4] Andere Bakterien leben kommensalisch, nützen oder schaden uns also nicht.
Welchen Einfluss hat Muttermilch auf das Verdauungssystem des Kindes? Sie wirkt im Grunde wie ein komplexer und sehr ausgewogener probiotischer Joghurt: In menschlicher Muttermilch kommen neben Fetten und Proteinen, die der Ernährung des Kindes dienen, auch so genannte HMOs vor. HMOs sind kleine Zuckermoleküle, die wir allerdings nicht mit unserer normalen Ernährung aufnehmen. Jede Mutter bildet zirka 200 unterschiedliche HMOs, die zwei Zwecke erfüllen: ganz bestimmte Bakterien im Darm des Kindes zu ernähren, die für das Kind vorteilhaft sind, und die Entwicklung krankheitsauslösender Bakterien zu behindern.
Wo werde ich leben? Frag die Milch!
Die Liste der bekannten nichtgenetischen Prägungen, die Eltern an ihre Kinder weiterreichen, wird immer länger. Neben dem Einfluss der Ernährung von Vätern auf die Entwicklung von Diabetes bei ihren Töchtern,[5] teilt die Muttermilch dem Kind mit, in welcher Umgebung es leben wird. Dies scheint unter anderem von Botenstoffen in der Muttermilch vermittelt zu werden, die beeinflussen, wie sich ein Kind entwickelt. Vieles in diesem Zusammenhang scheint paradox: Warum erhalten Söhne eine fett- und proteinreichere Milch als Töchter von derselben Mutter – wie erkennt der Körper der stillenden Mutter das Geschlecht ihres Kindes? Cortisol ist einer der Botenstoffe, der geschlechtsspezifisch weitergegeben wird: bei Söhnen in viel höheren Dosen als bei Töchtern. Bei Makaken wurde eine interessante Beobachtung gemacht: die erhöhte Cortisolkonzentration führte zum ’normalen‘ draufgängerischen Verhalten der Söhne, Cortisolmangel zu zurückhaltenderen Jungen.
Und schließlich: Welche Komponente/n der Muttermilch ist/sind dafür verantwortlich, dass der IQ von Kindern, die gestillt wurden, um durchschnittlich 5,9 Punkte höher liegt als der von Kindern, die Milchersatz erhielten? Auch wenn es einige Theorien gibt, kann man diese Beobachtung bis heute nicht erklären.[1]
Einige dieser noch rätselhaften Eigenschaften menschlicher Muttermilch machen nebenher auch deutlich, wie viel Arbeit noch in Forschung und Entwicklung von Milchersatzprodukten gesteckt werden müsste, bis sie das Stillen tatsächlich ersetzen könnten.
Literatur
[1] Petherick, A. Development: Mother’s milk: A rich opportunity. Nature 468, S5–S7, 2010.
[2] Murphy, K., Travers, P., Walport, M. et al. Janeway’s Immunobiology. Garland Science, Taylor & Francis Group. 7. Auflage, 2008.
[3] Sansonetti, P. J. To be or not to be a pathogen: that is the mucosally relevant question. Mucosal Immunol 4, 8–14, 2011.
[4] Cerf-Bensussan, N. und Gaboriau-Routhiau, V. The immune system and the gut microbiota: friends or foes? Nat Rev Immunol 10, 735–744, 2010.
[5] Skinner, M. K. Metabolic disorders: Fathers’ nutritional legacy. Nature 467, 922–923, 2010.