… sterben?
Manche Bücher sucht man sich nicht selbst aus. Sie werden einem zum Beispiel in die Hand gedrückt – mit der Bitte, etwas darüber zu schreiben. Das passierte mir neulich mit Michael de Ridders „Wie wollen wir sterben?“. Was für ein Titel. Ein guter Titel. Abschreckend?
Es geht also um das Sterben, den Tod. Kein Lieblingsthema in unserer Zeit mit ihren sauberen bis sterilen Wohnungen und aufgeräumten Leben, mit Kleinfamilien und mit alten Menschen, die allein oder in Heimen leben. Wir meiden das Thema, wenn wir können. Wir stellen uns ihm (vielleicht), wenn wir selbst oder unsere Nächsten betroffen sind. Und natürlich gibt es auch Menschen, die für sich begriffen haben, dass der Tod zum Leben gehört und die ihn nicht verdrängen. Damit meine ich nicht die, die Krimis lesen, Filme mit tödlichem Ausgang sehen und in diversen Zeitungen über den und den Promi lesen, der jetzt auch das Zeitliche gesegnet hat. Das ist der fiktive oder der fremde Tod, der uns vielleicht berührt, aber nicht an die Substanz geht. Am ehrlichsten und am nächsten dran sind noch die Todesanzeigen in den Zeitschriften. Aber auch da wissen nur die, die den Menschen kannten, welchen Tod er hatte. Friedlich, bei seiner Familie. Allein, im Altenheim. Steril, im Krankenhaus …
Michael de Ridder arbeitet seit über 30 Jahren als Klinikarzt und ist seit 2003 Chefarzt der Rettungsstelle des Berliner Urban-Krankenhauses. Er ist Vorsitzender der Hans-Joachim-und-Käthe-Stein-Stiftung für Palliativmedizin und erhielt 2009 den Ossip‑K.-Flechtheim-Preis für sein gesundheitspolitisches Engagement. Im Jahr 2000 ist von de Ridder bereits „Heroin – Vom Arzneimittel zur Droge“ erschienen.
„Wie wollen wir sterben?“ ist kein trockenes Buch, denn de Ridder erzählt aus seinem Alltag als Arzt. „Fallgeschichten und Reflexionen“, sagt er selbst, und das trifft es gut.
Zu Beginn schildert er den Tod seiner Großmutter im Jahr 1956, die nach einem Schlaganfall im Alter von 79 Jahren nicht ins Krankenhaus wollte, sondern zu Hause im Kreis ihrer Familie starb. Der Hausarzt zeigte dem Jungen, dass sie wirklich tot war, er ließ ihn einen Spiegel vor den Mund der Toten halten, der nicht mehr beschlug, und den kalten Fuß der Großmutter anfassen, die doch immer so warm gewesen war. Ein friedlicher Tod.
Dem gegenüber stehen alle anderen Sterbe- und Todesgeschichten in diesem Buch, denn das ist es, was de Ridder zeigen will: Dass das Sterben in unserer Zeit nur schwer akzeptiert wird. Mediziner wollen heilen, aber nicht das Sterben begleiten. Sterbende Patienten und alte Menschen werden abgeschoben oder sträflich vernachlässigt, denn sie sind keine Erfolgsgeschichten und sie bringen kein Geld.
Es kann so gehen:
Eine halbe Minute später steht ihr Herz still und die Wiederbelebung der Greisin mittels Beatmung und Herzmassage ist in vollem Gange (…). „Warum tun Sie das?“, fragte ich den neben mir stehenden Oberarzt wie betäubt. Er sah mich an, als wäre ich ein Außerirdischer. „Das sehen Sie doch! Die hat einen ausgedehnten Schlaganfall mit Ateminsuffizienz und obendrein noch ein Linksherzversagen. Reicht Ihnen das nicht?“ „Aber… sie ist doch… nicht mehr zu retten… oder?“ „Nicht mehr zu retten ist sie, lieber Herr Kollege, wenn Sie auf dem Monitor anhaltend eine Nulllinie registrieren und die Pupillen lichtstarr sind. Nehmen Sie doch mal Ihr Pathologielehrbuch zur Hand!“
Aber auch so:
„Sachte bitte, Frau Kollegin, sachte“, unterbreche ich sie. Langsam, aber bestimmt – sie will dem Patienten gerade die Beatmungsmaske aufs Gesicht drücken – schiebe ich ihre Hand beiseite. „Der alte Herr stirbt gerade, und das gestatten wir ihm jetzt, einverstanden?“
Die Geschichten vom Sterben stehen nicht haltlos im Raum. De Ridder bettet sie in die Entwicklungen der Medizin und in der Gesellschaft ein. Als Epochenwechsel in der Medizin sieht er die „Einführung der neuen Techniken der Wiederbelebung, der Lebensverlängerung und Organtransplantation“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während die Medizin zuvor die Kranken und Sterbenden eher begleitete und zum Beispiel bei Herz- und Nierenversagen nichts tun konnte, kamen nun Geräte und Medikamente ins Spiel, die über Leben und Tod entscheiden und auch das Sterben herauszögern konnten.
Eine Auswahl der Themen, die de Ridder bespricht:
- Magensonde im Endstadium – damit der Patient nicht „verhungert und verdurstet“? Oder verhindert sie eher das „natürliche Sterben“?
- Krankenhausbetrieb: Kliniken kämpfen um ihr Überleben – auf Kosten des Überlebens ihrer Patienten?
- Altenpflege in Deutschland – mangelhafte körperliche Pflege, ausbleibende Zuwendung, sozialer Tod zugunsten effektiver Überwachung, Zwangsruhigstellung (Bettgurte, Psychopharmaka) …
Scham, weil eine Gesellschaft, die sich ihr gesundheitliches Wohlergehen mehr als 250 Milliarden Euro jährlich kosten lässt, ihre Gebrechlichsten zu Almosenempfängern degradiert, nicht wenigen das Nötigste vorenthält und manche gar regelrecht verenden lässt.
Nicht die Pflege, sondern die Akutmedizin bringt Geld, und der Tod wird offenbar von vielen Medizinern als „medizinische Niederlage“, als „statistischer Störfaktor“ aufgefasst. De Ridder hat eine Vision, wie es gelingen könnte, die Medizin wieder menschlicher zu gestalten. Sein Schlüssel dazu ist die Palliativmedizin (pallium – Mantel):
… dass nämlich die Palliativmedizin zum „trojanischen Pferd“ der Medizin wird, das von innen heraus ihr Selbstverständnis sowie das Selbstbild des Arztes hin zu einem wirklich menschlichen Umgang mit dem Kranken verändert, ganz unabhängig von der Schwere und vom Stadium seiner Erkrankung.
Palliativmedizin ist für Patienten, die nicht mehr geheilt werden können. Ihnen soll das Leben und Sterben erträglich gemacht werden. Palliativmedizin lindert nicht nur Schmerzen, sondern behandelt auch Luftnot, Husten und Erbrechen sowie Angst, Verwirrung und Depression. Sie soll ein friedliches, ein Sterben in Würde ermöglichen.
Die Palliativmedizin ist seit 1987 ein eigenes medizinisches Fachgebiet. In der Aus‑, Weiter- und Fortbildung der Ärzte spielt sie allerdings aktuell keine oder nur eine nebensächliche Rolle. Dabei haben Versicherte in Deutschland seit 2007 einen „gesetzlich verbürgten Anspruch auf eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV)“ – die Umsetzung durch die Krankenkassen läuft jedoch nur schleppend. De Ridder weiß, dass ein Umdenken bei Politik, Gesellschaft und Kostenträgern erreicht werden muss. Dafür setzt er sich ein, und deswegen hat er auch dieses Buch geschrieben.
Das Thema ist kein leichtes, und die Fallgeschichten können durchaus schwer im Magen liegen. Aber de Ridder hat weder ein tiefschwarzes noch ein hetzerisches Buch geschrieben. „Wie wollen wir sterben?“ ist informativ, sachlich, dabei aber voller menschlicher Wärme. De Ridder ist nicht zynisch, nicht hart, nicht abgestumpft, und so hat er ein Buch verfasst, das ich uneingeschränkt empfehle.
Ein Videointerview mit Michael de Ridder könnt Ihr hier anschauen: Klick.
Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin
DVA März 2010
316 Seiten
ISBN: 978–3‑421–04419‑8
19,95 Euro