Das ist mal wieder ein Buch, das mir zu denken gegeben hat, in der Hauptsache geht es um eine Freundschaft, in der eine Person ausgenutzt, manipuliert und herabgewürdigt wird. Ich-Erzählerin ist Anna, fünfzehn Jahre, die mit ihrer Mutter, einer Samin, in einer kleinen norwegischen Stadt lebt, ihren Vater nicht kennt und eine einzige Freundin hat, Amanda. Amanda sieht „norwegisch“ aus, Anna nicht. Amanda ist offen, geht auf Leute zu, hat kein Problem damit, im Mittelpunkt zu stehen. Anna wird rot und bekommt kaum einen Satz heraus, wenn ein Junge sie anspricht. Und damit beginnt das Buch: Ein Junge, Samuel, spricht sie im Kiosk an und dringt in ihr Leben ein. Er beansprucht einen Platz darin und ist damit ein Konkurrent für Amanda.
Amanda will die Einzige sein, sie hat andere Freundinnen und Beziehungen zu Jungs, Anna jedoch muss berichten, mit wem sie redet und was sie macht, alles muss sie erzählen, andere Freundinnen darf sie nicht haben. Es ist ein ziemlich krasses Bild, das die Autorin, Kathrine Nedrejord, von dieser Beziehung zeichnet. Amanda ist die Sonne, um die sich Anna drehen soll, es darf keine Sonne neben Amanda geben. Und wenn Anna mal nicht macht oder sich nicht verhält, wie sie soll, gibts eine Strafe für sie, fiese Bemerkungen zum Beispiel oder Amanda ignoriert sie, ist auf einmal dicke mit anderen Mädchen, über die sie vorher noch gelästert hat.
Anna ist abhängig von Amanda, sie hat einen Amanda-Filter, mit dem sie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler betrachtet, bloß Samuel sieht sie mit eigenen Augen, ihn will sie sich nicht madig machen lassen von Amanda. Was schwer ist, da Amanda eine Meisterin der Manipulation ist und nach jahrelanger sogenannter Freundschaft weiß, wie Anna „funktioniert“. Dennoch schiebt Samuel, die Beziehung zu ihm etwas bei Anna an, ein langsames, mühsames Loslösen von Amanda. Wobei die Liebesgeschichte zwischen Samuel und Anna auch keine hellblaue mit Schäfchenwolken ist, sondern durchaus eine mit Störeffekten. Die Szene, in der Samuel zum ersten Mal Kontakt zu Anna aufnimmt, ist dermaßen unausgewogen, dass für mich die weitere Entwicklung zwischen den beiden einen schalen Beigeschmack hatte. Die Beziehung zwischen Anna und Amanda ist also nicht das einzige Problemfeld, auch die zwischen Anna und Samuel ist keine hollywoodmäßige Lovestory, und das finde ich gut.
Auch mit der Mutter gibts Reibereien, wie das mit Eltern oft so ist, will die Mutter ihrer Tochter das ein oder andere vorschreiben, als wüsste sie, was besser für sie ist. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist aber eine auf Augenhöhe, Eltern müssen eben auch erst mal lernen, dass ihre Kinder erwachsen werden und eigene Entscheidungen treffen können und wollen. Und dann ist da noch Annas Opa, der ihr enorm wichtig ist. Seit er nicht mehr gesund und stark ist, hat sie jedoch eine Scheu davor entwickelt, ihn zu besuchen, in dieser Beziehung macht sie ebenfalls eine Entwicklung durch. Zu viele Beziehungen und Probleme für ein Buch mit nicht ganz 200 Seiten? Nö, gar nicht, sondern einfach näher am Leben dran, in dem geht es ja auch eher komplex zu.
Das Buch ist aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzt, es hat seinen ganz eigenen Stil. Manchmal eine Spur zu altmodisch, wie ich finde, man kann das einfach lesen und hinnehmen oder sich mal fragen, ob Fünfzehnjährige wirklich so reden. Bei Übersetzungen wüsste ich dann immer gern, wie das wohl im Original ist, vergleichen kann ich es in diesem Fall nicht. Aber das ist nur eine Kleinigkeit, die nichts daran ändert, dass das Buch sehr lesenwert ist und auch Anstoß sein kann zu schauen, ob es im eigenen Leben manipulative Beziehungen gibt. Das muss ja längst nicht so extrem sein wie im Buch. Ein Buch, das so etwas leistet und zwar ohne irgendeine Moral- oder sonstige Keule zu schwingen, das fesselt und die Spannung bis zum Schluss hält, ist keine Selbstverständlichkeit, also Hut ab vor der Autorin!
Kathrine Nedrejord: Lass mich!
Aus dem Norwegischen von Holger Wolandt (Originaltitel: „Slepp meg“)
199 Seiten
ab 14 Jahren
2019 Urachhaus
ISBN 978–3‑8251–5219‑2
17 Euro