Die Geschichte spielt im Jahr 1842 und liest sich auch so, sie nimmt die Leserin, den Leser mit in eine andere Zeit. Das betrifft nicht nur die Handlung, sondern alles Drum und Dran, auch die Art und Weise des Erzählens. Das Buch ist nicht gerade dünn, rund 300 Seiten, die Schrift nicht zu klein, aber auch nicht so groß, wie man es oft bei Kinderbüchern hat, es gibt also ordentlich was zu lesen. Im Mittelpunkt steht die dreizehnjährige Maria Merryweather, die kürzlich Waise geworden ist und mit ihrer Gouvernante Miss Heliotrope von London nach Devonshire zieht, wo ihr einziger Verwandter, Cousin Sir Benjamin Merryweather, in einem herrschaftlichen Anwesen – Moonacre Manor – wohnt. Zu dem Haus, einem Schloss fast, gehört ein großer Park, umgeben vom Paradiesberg, dem Dorf Silverydew und dem finsteren Kiefernwald.
Maria ist erst skeptisch, aber schnell merkt sie, dass sie mit ihrem neuen Zuhause wirklich Glück hatte. Sie hat zum ersten Mal in ihrem Leben ein Zimmer ganz für sich, von Mensch bis Tier sind alle nett zu ihr, sie bekommt ein eigenes Pony, darf in Begleitung des riesigen Hundes Wrolf allein ausreiten und erlebt Abenteuer … Denn Menschen und Tiere in und um Moonacre Manor hüten einige Geheimnisse, die Maria Schritt für Schritt aufdeckt, aber nicht ungestüm, sondern mit einer gewissen Contenance, wie es sich für eine wohlerzogene junge Dame ihrer Zeit gehört.
Wird das langweilig? Nein, wird es nicht. Auch wenn das Buch sehr idyllisch und märchenhaft ist, mit einer großen Portion Religiosität, zieht es die Leserin, den Leser in seinen Bann. Denn die Autorin kann einfach gut fabulieren. Sie schildert schwärmerisch das Essen, das aufgetafelt wird, beschreibt mit genauem Blick das Äußere der Personen, gibt kleinen Dingen und Begegnungen mit Mensch und Tier Raum, sorgt mit den bösen „Schwarzen Männern“ (schwarz gekleidet und schwarze Bärte), die im Kiefernwald in einem Kastell hausen, für Spannung und webt alles perfekt zusammen.
Eine wichtige Rolle spielt logischerweise das kleine weiße Pferd, der Titelgeber des Buches. Aber es sei schon mal verraten, dass das Buch keine Pferdegeschichte ist, genauso wenig wie „Harry Potter“ eine ist. Tja, wie komme ich jetzt auf Harry Potter? Hinten auf dem Einband steht ein Zitat von Joanne K. Rowling: „Mein Lieblingsbuch war Das kleine weiße Pferd von Elizabeth Goudge.“ Und wenn man das weiß, mag einem die ein oder andere Interpretation zum kleinen weißen Pferd einfallen, sozusagen mit dem Harry-Potter-Blick.
Das Cover mutet ein bisschen altmodisch an, was zur Geschichte passt, diese Illustration sowie sämtliche im Buch stammen aus der Originalausgabe, sie sind von C. Walter Hodges. Um das Cover etwas aufzupeppen, hat der Verlag Glitzer auftragen lassen – auf das Pferd, den Mond, den Titel … Das ist okay und bleibt vor allem am Buch (an den Händen braucht das ja wirklich niemand). Ein kleines, praktisches Extra ist das grüne Lesebändchen.
Nachdem ich das Buch fertig gelesen hatte, googelte ich noch die Autorin. Elizabeth Goudge wurde 1900 geboren, das Buch erschien 1946. Mit dem Wissen um die Zeit der Entstehung kann man vielleicht nachvollziehen, warum die Autorin ihre Geschichte im Jahr 1842 spielen lässt und warum sie so extrem idyllisch und versöhnlich ist. Der Verlag empfiehlt das Buch für Kinder ab neun Jahren. Für sie dürfte das recht ungewohnte Lektüre sein, aber ich schätze, wenn sie sich darauf einlassen, werden sie genauso gefesselt lesen wie ich als Erwachsene …
Elizabeth Goudge: Das kleine weiße Pferd
Aus dem Englischen von Sylvia Brecht-Pukallus
Mit Illustrationen von C. Walter Hodges
312 Seiten
ab 9 Jahren
2018 Verlag Freies Geistesleben
ISBN 978–3‑7725–2723‑4
16 Euro