Irgendwann vor ein paar Monaten las ich einen Artikel über Doggerland, jenes große Land, das sich vor 10 000 Jahren, in der Steinzeit, dort befand, wo heute die Nordsee ist. Anlass des Artikels war eine Ausstellung mit Doggerland-Fundstücken in den Niederlanden. Ein untergegangenes Land, spannend! Die Forschung dazu steht wohl noch relativ am Anfang, entsprechend überrascht war ich, dass es schon ein Kinderbuch dazu gab: Daniel Bleckmanns „Doggerland. Die versunkene Welt“.
Die (Adoptiv-)Eltern der zwölfjährigen Zwillinge Leya und Lex forschen zu Doggerland, in den Sommerferien nehmen sie an einer Expedition in England teil. Die Zwillinge müssen mit, da sonst niemand auf sie aufpassen kann. Und es ist: langweilig. Sie sitzen in einem englischen Dorf ohne WLAN fest, die einzige Abwechslung ist der Pub, in dem sie Cola trinken, Dart spielen und Brexit-Diskussionen lauschen. Bis die Wirtin sie nach der Expedition fragt, sie von Doggerland erzählen und daraufhin von Baumstümpfen vor der Küste, im Watt, erfahren, Überreste von Doggerland? Leya und Lex ziehen gleich los, um sie sich anzuschauen – und finden weit draußen eine Steinformation, die aussieht wie ein Dolmen. Ja, der Dolmen ist ein Tor in die Vergangenheit und die Kinder landen in Doggerland.
Dort treffen sie gleich auf die Brüder Alif und Shagga vom Stamm der Wasserläufer, ohne die sie sicher ziemlich aufgeschmissen gewesen wären, denn in Doggerland laufen Mammuts und Bären herum und das Essen muss mühsam gesammelt oder gejagt werden. Zudem ist der Stamm der Wasserläufer mit dem Stamm der Knochentrinker im Clinch und alle sind misstrauisch gegenüber Fremden. Wozu auch eine ominöse Schamanin beiträgt, die alles andere als harmlos ist. Leya und Lex schlagen sich ganz wacker, wollen aber dennoch möglichst schnell zurück in ihre Zeit. Was nicht so einfach ist …
Der Autor zeichnet ein lebendiges Bild dieser Welt vor über 8000 Jahren. Im Nachwort erwähnt er, umfassend zur Steinzeit und zu Doggerland recherchiert zu haben, hauptsächlich habe er jedoch eine packende Abenteuergeschichte schreiben wollen und sich deshalb einige Freiheiten erlaubt. Das Buch ist also keine reine Fiktion, aber auch keine Sachgeschichte. Auf jeden Fall macht es neugierig auf Doggerland und kann ordentlich fesseln. Abwechselnd kommen Alif, Leya und Lex zu Wort, der Name steht jeweils als Kapitelüberschrift, dazu ein bestimmtes Tierbild – Alif Mammut, Leya Eisbär, Lex Riesenhirsch –, sodass man auf einen Blick sieht, aus wessen Perspektive erzählt wird. Alif spricht im Prinzip ganz normal, der Autor hat sich für ihn bzw. seinen Stamm aber ein paar bildhafte Begriffe ausgedacht, die am Schluss in einem Glossar versammelt sind, zum Beispiel „Graupelz“ für Wolf, „Himmelstrommel“ für Donner, „Maa-Mutt“ für Mammut, „Weißregen“ für Schnee. Wie sinnvoll das ist, darüber lässt sich streiten, aber zumindest erzeugt das beim Lesen eine gewisse Distanz und ein Bewusstsein dafür, dass die Menschen vor Tausenden von Jahren anders gesprochen haben.
Für Lex bräuchte man teils auch ein Glossar, bei ihm hat der Autor aus dem Vollen geschöpft bei Jugend- und Gamersprache. Etwas dick aufgetragen in meinen Augen, aber für die Zielgruppe, Kinder ab elf Jahren, wahrscheinlich okay. Die Zwillingsschwester ist sprachlich dagegen völlig unauffällig, sie engagiert sich für Tier- und Umweltschutz und steht in ihrer Freizeit zum Beispiel mit dem „Rettet die Eisbären“-Stand vor dem Supermarkt – wenn sie nicht gerade in der Steinzeit unterwegs ist. Der Autor hat die Figuren sympathisch und lebendig gezeichnet und sie und die Geschichte mit ein paar Eigenheiten versehen, die im Gedächtnis bleiben. So taucht unter anderem die genetische Besonderheit Syndaktylie auf und ebenso die eher neue Erkenntnis, dass in der Steinzeit nicht nur Männer auf die Jagd gingen, sondern auch Frauen. Kurzum: Das Gesamtpaket stimmt!
Daniel Bleckmann: Doggerland. Die versunkene Welt
Lektorat: Emily Huggins
304 Seiten
ab 11 Jahren
2020 Ueberreuter Verlag
ISBN: 978–3‑7641–5197‑3
14,95 Euro