„Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort. Wie Menschen mit Demenz das Leben sehen“

Die Herausgeberinnen die­ses Buches, Kathrin Feldhaus und Margarethe Mehring-Fuchs, haben über ein Jahr lang immer wie­der Menschen mit Demenz in drei Pflegeheimen in Baden-Württemberg besucht. Sie haben mit ihnen gere­det, Fotos gemacht, zuge­hört. Und eini­ge Gespräche, Äußerungen, Fotos, Zettel haben sie auf 136 Seiten auf sehr anspre­chen­de Art und Weise – mit der Schrift in Rot und Schwarz, ver­schie­de­nen Schrifttypen und ‑grö­ßen – versammelt.

Demenz ist längst ein Thema, über das man nicht nur in Apothekenzeitschriften liest. Es wer­den sogar Romane dar­über geschrie­ben. In vie­len, viel­leicht den meis­ten Familien gibt es jeman­den, die oder der von Demenz betrof­fen ist. Wie sich die Demenz ent­wi­ckelt, ist sicher indi­vi­du­ell ganz ver­schie­den, aber wie bei jeder Krankheit exis­tie­ren Gemeinsamkeiten. Und so geht es in die­sem Buch von Kathrin Feldhaus und Margarethe Mehring-Fuchs zwar um ganz bestimm­te Menschen, die zu einer bestimm­ten Zeit etwas geäu­ßert haben, aber Angehörige von Demenzkranken wer­den eini­ges wie­der­erken­nen und Leserinnen und Leser, für die das Thema Demenz Neuland ist, bekom­men einen guten Einblick.

Für mich ist die Botschaft die­ses Buches, dass man sich, wenn man mit Demenzkranken zu tun hat, ohne Vorurteile und offen auf sie ein­las­sen soll­te. Die Demenz ver­än­dert die­se Menschen, aber sie sind nach wie vor da, mit allem Denken und Fühlen. Mich hat im Buch bei­spiels­wei­se eine Szene sehr berührt, als ein Herr Scholz den Schneewalzer singt. Wenn vie­les ande­re längst ver­ges­sen ist, blei­ben oft noch die Lieder.

Zum Buch gehört eine CD mit dem Titel „Bruchstücke“ mit Aufnahmen aus den Pflegeheimen sowie Gedichten von Tobias Gralke. Das Buch und die CD sind lesens- und hörens­wert, und wahr­schein­lich war es längst über­fäl­lig, dass mal nicht über Menschen mit Demenz geschrie­ben wur­de, son­dern sie selbst zu Wort kamen.

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Kathrin Feldhaus und Margarethe Mehring-Fuchs: Wenn der Kopf hin­aus­geht, ganz weit fort. Wie Menschen mit Demenz das Leben sehen
Herausgegeben von der Veronika-Stiftung
136 Seiten
mit Audio-CD
Patmos 2016
ISBN: 978–3‑8436–0706‑3
16,99 Euro

„Pardon, Monsieur, ist dieser Hund blind?“ von Hervé Jaouen

Es beginnt mit einem Brand. Véros Oma bezie­hungs­wei­se Omama stellt eine Pfanne mit einem Beefsteak dar­in auf den Gasherd und geht hin­aus in den Garten, um die Rosenstöcke zu beschnei­den. Der Nachbar sieht, dass Rauch aus dem Haus quillt, und ruft die Feuerwehr. Denn Omama sieht den Rauch auch, begreift aber nicht, was er bedeu­tet: Sie hat Gedächtnisstörungen, wie es in der Familie heißt.

Omama kann nicht mehr allein in ihrem Haus blei­ben, beschließt die Familie, und so muss Omama umzie­hen und Véro muss ihr Zimmer für Omama räu­men. Véro bekommt ein bes­se­res Zimmer, böse ist die 13-Jährige also nicht drum. Nun beginnt eine beweg­te Zeit für Véros Familie: Das sind ihre Mutter, die Übersetzerin ist, ihr Vater, der Philosophie unter­rich­tet, und ihr älte­rer Bruder Guillaume. Eine leicht chao­ti­sche Familie, die einem beim Lesen schnell ans Herz wächst. Auch, weil sie Omama beim Abdriften in die Alzheimerleere vol­ler Liebe beglei­ten. Denn Alzheimer ist es, was Omama hat: Sie ist kör­per­lich gesund, doch ihr Gehirn lässt sie im Stich, Tests beim Psychologen und die Computertomographie brin­gen es ans Licht.

„Pardon, Monsieur, ist die­ser Hund blind?“ ist ab 12 Jahren, es ist Véro, die die­ses Schlusskapitel in Omamas Geschichte erzählt. Véro ist ein (fran­zö­si­scher) Teenager, wie er im Buche steht, mit Jungs und Schule und in den Ferien Sonne und Strand im Kopf, und so ist es im Grunde ein opti­mis­ti­sches Buch mit vie­len Momenten, in denen man lächelt und grinst. Dabei sind Dinge, Szenen, die man mit Alzheimerkranken erle­ben mag, gut und authen­tisch dar­ge­stellt, von den leich­ten Vergesslichkeiten über Sonderlichkeiten (Löffel und Essen unterm Bett hor­ten, Baden in der Nacht) bis hin zum Verfall (nicht mehr kau­en, sodass es kein rich­ti­ges Essen mehr gibt, son­dern Babybrei). Es wird schlim­mer, Omama wird weni­ger, und nie­mand kann etwas dage­gen tun. Aber es gibt immer wie­der Momente, in denen Omamas Persönlichkeit auf­blitzt, und ein alter Koffer vol­ler Briefe offen­bart ein Stück aus Omamas Vergangenheit, von dem die Familie nichts wusste …

„Pardon, Monsieur, ist die­ser Hund blind?“ ist ein behut­sa­mes, respekt­vol­les Jugendbuch zum Thema Alzheimer. Es ist nicht zu leicht und nicht zu schwer. Ein gutes Buch.

Hervé Jaouen: Pardon, Monsieur, ist dieser Hund blind?

Hervé Jaouen: Pardon, Monsieur, ist die­ser Hund blind?
Aus dem Französischen von Corinna Tramm
Verlag Urachhaus
191 Seiten
Ab 12 Jahren
ISBN: 978–3‑8251–7786‑7
14,90 Euro