Paul, neunzehn Jahre, ist Hals über Kopf nach Italien geflogen, um von der Toskana nach Rom zu wandern, einen Monat Zeit hat er dafür. Sein Rucksack ist mit fünfzehn Kilo viel zu schwer, merkt er schnell, aber das eigentliche Problem ist (natürlich) das mentale Gepäck, das er mit sich herumschleppt. Sein bester Freund hat ihn vor vier Jahren auf äußerst schäbige Weise geoutet, das hat er nach wie vor nicht verwunden. Auch nicht den Verlust dieses Freunds. Was bei der Wanderung herauskommen soll, weiß er selbst nicht genau, auf die Idee hat ihn Mark Forster gebracht (wie, kann man ja nachlesen). Gleich in seiner ersten Unterkunft quatscht ihn eine alte Frau an und lässt sich von Paul, der einfach nur seine Ruhe haben will, nicht abwimmeln. Sie stellt sich als Liz vor, ist achtzig und offenbar genau die Person, die Paul gerade braucht. Sie laufen zusammen weiter, reden viel, können aber auch miteinander schweigen. Liz interessiert sich dafür, wie es ihm geht – und sie erzählt ihm von Helmut.
In kürzeren und längeren Rückblenden, die sich durchs ganze Buch ziehen, erfährt die Leserin, der Leser, was Helmut mit einundzwanzig Jahren im Sommer 1957 in Köln erlebt hat. Er ist mit Marlene zusammen, sie wollen heiraten. Dann stürzt Enzo, ein italienischer Gastarbeiter, buchstäblich in sein Leben, sie begegnen sich immer wieder und verlieben sich ineinander. Aber Helmut ist nicht frei – er ist verlobt, hat Verpflichtungen gegenüber seiner Herkunftsfamilie, beruflich existieren ebenfalls Abhängigkeiten und das gesellschaftliche Klima für Männer, die Männer lieben, ist miserabel. Laut Paragraf 175 des Strafgesetzbuches ist Sex zwischen Männern strafbar, sogenannte 175er werden durch die Polizei verfolgt, sie werden gedemütigt und verurteilt. Zum einen ist da also eine Liebesgeschichte, eine Annäherung, die der Autor wunderbar schildert. Zum andern ist diese Liebe geheim und ganz unmittelbar bedroht. Helmut muss sich entscheiden, was er will …
Pauls „Jetzt“ ist zunächst eher ruhig, er muss sich schließlich vor allem selbst sortieren. Bei Helmut passiert dafür umso mehr. Beide Ebenen schildert der Autor, Hansjörg Nessensohn, authentisch, im Zusammenspiel ist das absolut fesselnd. Infos zum Paragrafen 175, der 1871 eingeführt und erst 1994 abgeschafft wurde, finden sich im Nachwort von Joachim Schulte. Der Titel des Buchs ist vielleicht etwas allgemein, aber er ist ein gutes Motto und ergibt in Verbindung mit dem Regenbogen-Cover eine klare Botschaft und Ansprache. Woher kennt Liz Helmuts Geschichte? Was nimmt Paul von dieser Reise und der Begegnung mit Liz und über sie mit Helmut mit? Der Autor beantwortet diese Fragen so, dass es eine runde Sache ist, aber er lässt auch etwas offen, sodass ein weiteres Buch mit Paul durchaus möglich scheint – spannend wäre es allemal zu lesen, wie es mit ihm weitergeht.
Hansjörg Nessensohn: Mut. Machen. Liebe
Lektorat: Judith Schumacher
352 Seiten
ab 14 Jahren
2021 ueberreuter
ISBN: 978–3‑7641–7119‑3
18 Euro