Kein Kind mehr: „Autofokus. Moritz Motte will es wissen“ von Martin Nygaard

Da hät­ten wir ein Buch, das man mehr als ein­mal lesen kann, ohne dass es lang­wei­lig wird. Vielleicht soll­te man es sogar zwei­mal lesen, denn beim ers­ten Lesen bekommt man wahr­schein­lich vor allem mit, dass Moritz, um den sich hier alles dreht, ziem­lich oft an Sex denkt. Moritz Holden Motte ist 14, hat noch nicht mit einem Mädchen geschla­fen, will das schleu­nigst ändern und macht der­weil Fortschritte beim „Wichsen“, wie er es nennt. Ja, die Sprache ist direkt, das bekommt man bereits im drit­ten Satz mit, in dem es um den „Zusammenhang zwi­schen Schuhgröße und Schwanzlänge“ geht.

Der Autor des Buches ist Martin Joyce Nygaard, Ricarda Essrich hat es aus dem Norwegischen ins Deutsche über­setzt. Die Trilogie um Moritz Motte, deren ers­ter Band „Autofokus. Moritz Motte will es wis­sen“ heißt, soll auto­bio­gra­fi­sche Züge haben. Als Teenager habe Nygaard sich über unrea­lis­ti­sche Jugendbücher geär­gert, ist im Klappentext zu lesen. Das muss­te er natür­lich selbst bes­ser machen – und lässt auch Moritz über ein sol­ches Buch läs­tern: „Es war total schlecht. Kein Junge auf der Welt wür­de so den­ken, wie es die Hauptfigur im Buch tat. Er war nicht ein ein­zi­ges Mal geil gewe­sen. Hallo??“

Und da ist ja was dran, wenn ich so an die Jugendbücher den­ke, die ich gele­sen habe (und das sind vie­le): Genauso wenig wie erwähnt wird, dass der Held aufs Klo geht, steht da auch, wie der puber­tie­ren­de Körper manch­mal macht, was er will, und dass in dem Alter so lang­sam die Sexualität erwacht, ums mal gedie­gen aus­zu­drü­cken. Und wenn es doch kör­per­lich wird, dann ist es gleich die gro­ße Liebe –  expli­zit, rea­lis­tisch oder pein­lich wird es eher nicht. Wir reden hier von Jugendbüchern, nicht von Büchern für Kinder, also von einem Publikum ab cir­ca 13 Jahren. Teenagern wird zwar eini­ges an Gewalt zuge­mu­tet, bei­spiels­wei­se mit der „Tribute von Panem“-Reihe, aber „Geilsein“ und „Wichsen“ (sie­he oben …)?

„Autofokus“ ist nah dran an dem, was Teenagerjungs (ver­mut­lich) den­ken, füh­len und tun, aber das wird mit dem Wissen und der Erfahrung eines Erwachsenen for­mu­liert. Keine Jugendsprache auf Krampf, Inhalt statt So-wie-als-ob. Es sind gar nicht so vie­le Seiten, 225, doch die zei­gen Moritz recht kom­plex. Die Geschichte bzw. Handlung ist chro­no­lo­gisch, dabei nicht künst­lich-dra­ma­tisch kon­stru­iert, son­dern da läuft das Leben ab, es pas­siert was, Probleme kom­men und gehen wie­der (oder auch nicht). Hier sitzt man einem 14-Jährigen auf der Schulter, der in der Ich-Form erzählt. Man denkt sich: Das ist ein net­ter Junge, nicht bös­ar­tig oder so, der nicht direkt einen Plan hat und ver­sucht, sich als Nicht-mehr-Kind zurecht­zu­fin­den, scheint nicht leicht zu sein mit Freunden, die ganz schön mob­ben kön­nen, mit Mädchen, die man ein­fach nicht ver­steht, mit einer Familie, in der man sich manch­mal wie ein Alien fühlt. Und man staunt, wie wich­tig die Sex-Sache für Moritz ist …

Der Kosmos der Hauptperson ist die Stadt, in der Moritz lebt, sind sei­ne Schule, Freunde und die Familie. Sein bes­ter Freund Jonny ist nach einem Autounfall, bei dem der Vater ums Leben kam, von der Taille abwärts gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Das spielt wei­ter kei­ne Rolle, Moritz ist des­we­gen nicht net­ter oder gemei­ner zu sei­nem Freund. Wenn Moritz den Harten gibt, um sich in der Schule Anerkennung zu ver­schaf­fen, muss Jonny auch mal ein­ste­cken … Moritz‘ Mutter ist Engländerin und scheint mit dem Herzen noch in ihrer Heimat zu sein, sie lebt auf, wenn sie nach England tele­fo­niert und zeigt ihre Gefühle eher nicht. Als Kind war Moritz eine Zeitlang im Kinderheim, die Angst davor, abge­scho­ben und zurück­ge­las­sen zu wer­den, schleppt er seit­dem mit sich her­um. Beide Eltern schei­nen Lichtjahre von dem Jungen ent­fernt, Planeten, die zu anders sind, um sie begrei­fen zu kön­nen, man muss sich mit ihnen arran­gie­ren. Vor dem Vater hat Moritz Angst bis Respekt, er wird aus ihm nicht schlau. Es gibt nur weni­ge Momente der Nähe. Von sei­nen Problemen erzählt Moritz sei­nen Eltern nichts, nie scheint der rich­ti­ge Augenblick dafür da zu sein.

Moritz ist ein Bastler und holt sich damit ein biss­chen Beifall, so, als er einen Handventilator baut und der cools­te Typ in der Klasse ihn gnä­dig annimmt, wor­auf­hin alle so ein Spielzeug haben wol­len. Er trägt Zeitungen aus, um sich was dazu­zu­ver­die­nen, hat ein Meerschweinchen und ist Techniker in einer Band. Endlich ein Buchteenager, der nicht nur zwei expli­zit genann­te Hobbys hat. Was Moritz so macht, wird nicht auf dem Tablett prä­sen­tiert, son­dern ist schön in die Geschichte eingewoben.

Die Mädchen, oder: die Frauen sind selbst­re­dend ein Kapitel für sich. Ist Moritz ver­knallt in Jonnys jün­ge­re Schwestser Pia? Oder in das schöns­te Mädchen sei­ner Klasse, Barbie? In Katinka, die sich mit ihm ver­lobt, oder in die fet­te Rachel? Und was ist mit Sandra, der ame­ri­ka­ni­schen Untermieterin? Auf jeden Fall ist er dabei, sei­nen Körper (na, einen bestimm­ten Körperteil beson­ders) zu ent­de­cken, teils gerät er dabei regel­recht außer Kontrolle, der Kopf ist aus­ge­schal­tet und Moritz macht Sachen, für die er sich dann schämt – es kommt ihm vor, als ver­wan­de­le er sich in einen Mr. Hyde… Was Moritz so treibt auf der Suche nach der Sexualität, ist nicht unbe­dingt durch­schnitts­jun­gen­haft, es ist schon extrem und auch über­zeich­net. Aber Moritz dürf­te für Jungs eine Identifikationsfigur abge­ben, und für alle ande­ren liest sich das Buch ein­fach gut – ohne fal­sche Scham und wahr­haf­tig. Erwachsenwerden und Sexualität? Moritz heißt sicher nicht zufäl­lig Moritz Holden Motte – „Der Fänger im Roggen“, Holden Caulfield, lässt grüßen!

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Martin Nygaard: Autofokus – Moritz Motte will es wissen
Aus dem Norwegischen von Ricarda Essrich
ab 14 Jahren, 228 Seiten
Abentheuer Verlag
14,80 Euro
ISBN  978–3‑940650–15‑3