Geschichte einer Magersucht: „Hunger nach weniger“ von Jessica Antonis

In der aktu­el­len my.self-Ausgabe ist mir die­se Woche eine Parfumwerbung auf­ge­fal­len. Ein Mann, eine Frau. Die Frau aller­dings hat­te kei­nen Körper, jeden­falls nicht das, was ich als einen sol­chen bezeich­nen wür­de. Es war mehr ein Schatten. Ja, es ist nicht neu, dass in der Werbung Frauen ihre Konturen ver­lie­ren und kräf­tig gepho­to­shop­pt wer­den. Aber das war wirk­lich krank. Und ich hab an das Buch gedacht, das ich vor einer Weile gele­sen habe: „Hunger nach weni­ger. Roman einer Magersucht“. Autorin des Buches ist Jessica Antonis, die selbst mager­süch­tig war (oder bleibt man es immer, wenn man es mal war, auch wenn man sie über­win­det?): „Diese Geschichte beruht auf eige­nen Erfahrungen, aber die Personen sind frei erfun­den“, steht auf Seite sechs.

„Hunger nach weni­ger“ wur­de von Verena Kiefer aus dem Niederländischen über­setzt und ist 2001 erst­ma­lig auf Deutsch erschie­nen. Seitdem sind etli­che Jahre ins Land gezo­gen, und manch­mal merkt man das dem Buch auch an. Es stört aber nicht, denn die Geschichte kreist ein­zig und allein um Anne: Was denkt Anne, was macht Anne. Und die 16-jäh­ri­ge Anne hat nur ein Thema: ihren Körper, den sie zu dick fin­det, und den sie dün­ner bekom­men will.

Das Buch ist in Monate unter­glie­dert, es beginnt im September. Anne will einen Rock anzie­hen, steht ewig vor dem Spiegel und gefällt sich in kei­nem. Schließlich zieht sie, wie immer, ihren Schlabberpulli und eine Jeans an. Sie ist nei­disch auf ihre jün­ge­re Schwester Sofie, die ganz läs­sig ist und sich in ihrem Körper wohl­fühlt. Anne hasst es, den Schulhof zu über­que­ren, sie stellt sich vor, alle wür­den sie anstar­ren und sie häss­lich und dick fin­den. Sie wünscht sich dün­ne Beine, einen fla­chen Hintern, eine schma­le Taille und Oberschenkel, die beim Laufen nicht gegen­ein­an­der­scheu­ern. Ihre bes­te Freundin Amaryllis ist so, wie Anne es sich erträumt: wun­der­schön, dünn. Anne will von ihr wis­sen, ob sie dick sei. Die Antwort der Freundin: „Du bist wirk­lich nicht dick, nur mol­lig“. Das ist der Auslöser. Anne hat zwar schon öfter Diät gehal­ten und ver­sucht, abzu­neh­men, doch jetzt will sie es durchziehen.

Ab sofort dreht sich alles nur noch ums Essen. Sie will nicht essen – und denkt des­we­gen stän­dig dar­an. Sie kann sich schlech­ter kon­zen­trie­ren, das Essen wird zum Feind, sogar im Traum geht es ums Essen, es sind Albträume. Im September wiegt Anne bei 1,63 m 60 Kilo. Ihr Ziel sind 47 Kilo. Im Februar wiegt sie weni­ger als 46 Kilo, und es ist immer noch nicht genug. Es ist wie ein Sog, der Anne mit sich reißt und kein Anhalten mehr zulässt, sie von ihrer Familie und ihren Freunden, von allen, ent­fernt. Alle Kraft und Energie scheint sie in das Dünnerwerden zu ste­cken. Sie kann sich nicht gegen ihre Mutter und gegen ihre jün­ge­re Schwester durch­set­zen, doch in Bezug auf das Abnehmen lässt sie sich von kei­nem etwas sagen. Ihre Eltern mer­ken, dass Anne immer weni­ger wird und bald viel zu wenig wiegt. Anne ver­spricht ihnen, regel­mä­ßig zu essen. Damit sie nicht zunimmt, greift sie heim­lich zu Abführmitteln.

Die ekli­gen, bru­ta­len Seiten der Magersucht blei­ben nicht aus­ge­spart. Als Anne ein­mal 15 Tabletten nimmt, ver­liert sie die Kontrolle über ihren Schließmuskel, Magenschmerzen sind nicht die Ausnahme, son­dern die Regel. Die Abführtabletten sind teu­er, sodass sie beginnt, ihre Familie zu besteh­len. Als sie kein Geld mehr hat, geht sie dazu über, ihr Essen zu erbre­chen, außer­dem treibt sie manisch Sport. Sie ver­letzt sich selbst mit einem Rasiermesser und ent­wi­ckelt zwang­haf­te Verhaltensweisen. So beob­ach­tet sie, wie viel ande­re essen, sie muss immer die sein, die am wenigs­ten isst. Als ihre Freundin Amaryllis beschließt, dass sie auch abneh­men müs­se, ent­wi­ckelt sich zwi­schen den bei­den Mädchen eine Art Konkurrenz. Vertrauen kann Anne nie­man­dem mehr, nur ihrem Tagebuch. Als ihre Eltern es fin­den und dar­in lesen, wird Anne in eine Klinik eingewiesen.

Dort wird sie nicht auto­ma­tisch gesund, sie muss sich wie­der ent­schei­den. Warum sie die Entscheidung trifft, die sie trifft, war für mich nicht so rich­tig nach­voll­zieh­bar. Vielleicht ver­sa­gen der Autorin hier die Worte, oder sie kön­nen nur ein schlech­ter Ersatz sein? Auch ande­re Fragen blei­ben offen, da wir nur Annes Sicht der Dinge erfah­ren. So kommt ihre Mutter nicht beson­ders gut weg, da sie ihre fast erwach­se­ne Tochter teils ent­mün­digt, ihr vor­schreibt, was sie tun soll: die Oma besu­chen, eine bestimm­te Bluse kau­fen usw. Und ist Amaryllis wirk­lich eine gute, loya­le Freundin – oder eifer­süch­tig auf Anne, die nun so dünn ist und für die Alex etwas übrig­zu­ha­ben scheint? Dieses Ungefilterte gibt einem zu den­ken, zu grü­beln. Zumal Anne am Ende, als sie gesund wer­den will, hofft, dass ihre Familie und Freunde „ihr irgend­wann das Leid, das sie ihnen zuge­fügt hat­te, wür­den ver­ge­ben kön­nen.“ Das liest sich selt­sam, da wir in die­sem Buch aus­schließ­lich von dem Leid gele­sen haben, das Anne erlebt. Es ist schlimm. Und es ist gut, dass das so unmit­tel­bar gezeigt wird, viel­leicht kann es Freunden und Familienmitgliedern von Magersüchtigen hel­fen, deren Denkweise zu ver­ste­hen und die Tricks zu erken­nen. Vielleicht kann es auch Jugendliche errei­chen, die sich die Bilder im TV, in den Zeitschriften, in der Werbung zu Herzen neh­men und so dünn wer­den wol­len wie man­che Models. Sich dünn zu hun­gern kann lebens­be­droh­lich sein, und an Magersucht ist nichts Romantisches, sie ist ein Elend. Das ist nach dem Lesen die­ses Buches klar.

Jessica Antonis: Hunger nach weniger
ab 14 Jahren, 200 Seiten
9,95 Euro
Ueberreuter
ISBN: 978–3‑8000–5651‑4

2 Kommentare

  1. Liebe Andrea,

    herz­li­chen Dank für die aus­führ­li­che Beschreibung, ich kann­te das Buch bis­her noch nicht. Ja, eine Essstörung ist ein ganz gro­ßes Elend, für die Betroffenen und die Angehörigen. Setzt man sich aber ehr­lich und aus­dau­ernd mit ihr aus­ein­an­der, kann sie auch eine gro­ße Chance bedeu­ten. Ich bin schon seit über 13 Jahren völ­lig frei von mei­ner ES und ich behaup­te mal, dass mein heu­ti­ges Essverhalten weit­aus „nor­ma­ler“ ist, als das der meis­ten ande­ren Frauen. Meist sind Diäten die „Einstiegsdroge“ in eine ES und die Grenzen sind flie­ßend. Die Betroffenen müs­sen zunächst begrei­fen, dass sie kein Problem mit dem Essen haben, son­dern mit Beziehungen. Mit der Beziehung zu sich selbst und auch mit den Beziehungen zur Umwelt. Befasst man sich also als Essgestörte immer nur mit sei­nem Essverhalten, behan­delt man ein Symptom und nicht die Ursache.

    LG Simone

  2. Liebe Simone,

    Deine Erklärung erscheint mir sehr plau­si­bel … In die­sem Buch, „Hunger nach weni­ger“, spielt die Therapie eigent­lich kei­ne Rolle. Anne ist zwar zum Schluss in einer Klinik, aber man erfährt nur, dass sie gewo­gen wird und essen soll, nichts von Therapiegesprächen über sie und ihre Beziehung zu ande­ren. Vermutlich woll­te die Autorin das aus­spa­ren. Oder die Therapie war zu ihrer Zeit anders? Wenn man das wüsste.

    Kannst Du noch Jugendbücher zu die­sem Thema empfehlen?

    LG
    Andrea

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